Wie kann Kriegstrauma mit Musik behandelt werden?
Wie kann Kriegstrauma mit Musik behandelt werden?
Du kannst es nicht sehen, du kannst es nicht anfassen, es ist nur einen Augenblick da, ist wie das Leben und heilt jeden Augenblick im Leben. Es ist ein unsichtbares Geschenk. Was ist das?
Als ich gestern einen Neujahrsspaziergang durch den Wald machte und mich auf ein etwas Feuchtes, vom Morgentau morsches Bänkchen an der sonnenhellen Lichtung setzte, gesellte sich eine alte Dame zu mir. Sie entschuldigte sich, dass sie sich mit zu mir auf die Bank setzten muss, weil sie sich so erschöpft fühlt, eine Pause braucht, weil sie sich wohl etwas übernommen hätte.
Eine Weile telefonierte sie mit ihrer Freundin, die sie schon, wie Sie mir nachher berichtete, 50 Jahre kennt und die seit einigen Jahren im Altenheim lebt. Dass sie dort nicht glücklich sei, und die Betreuung als „Abzocke“ empfindet, an die sie sich, dank ihrer Erziehung, widerspruchslos anpasst. „Ein Altenheim muss man meiden, wie der Teufel das Weihwasser“, bemerkt die alte Dame auf der Bank. Schon bald darauf setzt Sie ihre Wanderung fort und verabschiedet sich mit den Worten: „Sport hilft, damit man nicht ins Altenheim muss“. Ich bleibe noch lange auf der Sonnenbank sitzen.
Es war um die Jahrtausendwende, in meinem Studium, als ich über meine Vorfahren und die Generation derer intensiv nachdachte, die Kriege erlebten, und mit denen ich die nächsten 2 Jahrzehnte in vielen Altenheimen der Stadt musiktherapeutisch arbeiten sollte.
Kriege hinterlassen Spuren, die die seelische Unversehrtheit der Kinder von damals, und heute Hochbetagten, negativ beeinflussten. Sie bewirken schwere Traumata, die körperliche Krankheiten zur Folge haben können, wenn die Ereignisse verdrängt, bagatellisiert oder ins Vergessen verschoben werden.
Der Psychiater und Psychoanalytiker Prof. Dr. med. Hartmut Radebold, Jahrgang 1935, mit Lehrstuhl für Klinische Psychologie der Universität Kassel und Leiter des Lehrinstituts für Alterspsychiatrie in Kassel, war es, der über 60 Jahre nach Ende des 2. Welt-krieges ein verdrängtes, kollektives deutsches Thema, das der Traumatisierung der Deutschen in zwei Weltkriegen, erforscht und ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückholte.
Er war selbst Betroffener, Sohn eines Kriegsheimkehrers des Ersten Weltkrieges und Kriegskind im Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2021 ist Hartmut Radebold gestorben. Ich erlebte ihn noch persönlich in seinen Fachvorträgen und war ergriffen und betroffen, wenn er z.B. von der Angst sprach, die ihn immer wieder überfiel, wenn Sirenen heul-ten oder Flugzeuge tief flogen. In seinen Seminaren und Vorträgen sensibilisierte er seine Zuhörerschaft, vor allem Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten für die „historische Sicht“ auf die Klienten, und ermutigte vor allem zur musiktherapeutischen Arbeit, die er als Königsweg unter den Therapieverfahren, auch aus Selbsterfahrung, empfahl.
Zur gleichen Zeit, um die Jahrtausendwende, wurde das Sozialdienstpersonal in Altenheimen abgebaut, Musiktherapiestellen wurden nicht mehr neu besetzt, Räume für sozialtherapeutische, beratende oder kreative Angebote wurden abgeschafft und in Bewohnerzimmer umgebaut. Denn je mehr Bewohner, desto mehr „Abzocke“ ist möglich. „Unsichtbaren Geschenke“ wie Musik als therapeutische Anwendung wurden Luxus, den sich nur noch wenige Altenheime leisteten.
Genau zu dieser Zeit begann ich meine Berufslaufbahn als freie selbständige Musiktherapeutin. Ich arbeitete jeden Tag in einer anderen Einrichtung und versuchte etwas von dem alten Glanz der Musiktherapie mit Festanstellung über die Zeit zu retten, was Jahr für Jahr schwerer wurde und mit Beginn der Pandemie zur Therapie nach dem „Gießkannenprinzip“ mutierte. In zu großen Gruppen mit ungeeigneten Räumen war in die Tiefe gehendes individuelles therapeutisches Arbeiten verunmöglicht und von den Trägern der Einrichtungen nicht mehr als finanzierungswürdig erachtet.
Das Dilemma bestand und besteht immer noch darin, dass therapeutische Begleitung auf Rezept über die Krankenkasse nur die drei klassischen Therapieverfahren (Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie oder Verhaltenstherapie) beinhaltet, die für demenziell Erkrankte, Hochbetagte oder Menschen, die der Sprache nicht mehr mächtig sind, ungeeignet sind. Mit Prof. Hartmut Radebold als Rückenstärkung konnte ich mehr als 20 Jahre für die Musiktherapie in Altenheimen eine Lanze brechen und damit die Verarbeitung ungeheilter Augenblicke des Lebens, der Kriegs- und Nachkriegszeit unterstützen.
Kriegstrauma kann bis ins hohe Alter behandelt und gemildert werden. Kriegstraumafolgestörungen sind heute wieder eine in Deutschland anerkannte medizinische Diagnose.
Das war nicht immer so.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde den Kriegskindern abgesprochen, dass sie ge-sundheitliche Schäden durch den Krieg erlitten hätten.1954 wurden die damaligen Forschungen über Kriegstraumatisierung mit 1100 betroffenen Kindern als Probanden eingestellt. Bis zum Jahre 2000 galt auf Grund dieser Forschungen die anerkannte medizinische Lehrmeinung: Kinder sind in der Lage folgenlos Extrembelastungen eines Krieges zu überstehen!
Betroffenen wurde also eingeredet, dass Kriegseinwirkungen nicht schaden, was zur Folge hatte, dass sie es selbst glaubten. Alle 1100 Probanden, so das Ergebnis der Forschungen, hätten sich also gesund entwickelt. In der damaligen Studie nicht mit eingeschlossen waren Probanden, die in Heimen und Psychiatrien untergebracht wurden. Das waren, laut Prof. Radebolds Recherche, 600 000 – 800 000 Kinder. Er nahm an, dass dort die am schwersten traumatisierten Kinder der Kriegsgeneration untergebracht waren, denen ebenfalls eingeredet wurde, dass Krieg einem Kind nicht schadet.
Diese wahrscheinlich am schwersten traumatisierten Kinder kamen also gar nicht in den Fokus der Betrachtung der frühen Forschung. Das führte damals zu dem Ergebnis der hundertprozentigen Schadlosigkeit von Kriegseinwirkungen auf ein Kind. Damit verschwand das Thema aus der Wissenschaft und aus dem öffentlichen Inte-resse in den Bereich des Unausgesprochenen bis zum Jahr 2000!
Als Hartmut Radebold 2001 die Wiederaufnahme der Kriegskinderforschung forderte, stieß er auf massive Abwehr. Einerseits, weil man aus Selbstbetroffenheit den Prozess der Verarbeitung fürchtete, anderseits, weil die EU es abwehrte, Forschungsgelder be-reitzustellen. Die Begründung lautete: Kriegsverlierern einer Täter-Nation steht es nicht zu, Forschungsgelder der EU zu verwenden. In Folge dessen wurde Betroffenen medizinische Unterstützung weiter verwehrt, die der Wiederherstellung und Verbesserung von psychischer Gesund-heit, auf der die körperliche Gesundheit fußt, dient.
Die alte Frau, mit der ich auf der Bank saß, erzählte mir, dass ihr Vater vom Krieg ver-ändert zurückkehrte. In der Nacht schrie er, und hatte Alpträume, später fing er an zu trinken und brachte sich mit Mitte 40 um. Therapie nahmen weder seine Frau noch die 4 Kinder in Anspruch. Die Kneipe war der „Therapieort“ (heute würde man sagen, die Selbsthilfegruppe), in der die Kriegsheimkehrer redeten und sich ins Vergessen hinein besoffen.
Bis Anfang des neuen Jahrtausends, also mehr als 60 Jahre nach Kriegsende ver-schwand das Thema aus dem sachlich-wissenschaftlich geführten Diskurs. Erkrankung in Folge eines Kriegstraumas galt als nicht existent bis Anfang der 2000er Jahre. Im deutschen System der Krankenkassen existierte die Diagnose Kriegstraumafolge-störung nicht! Denn ein krankmachender Einfluss auf die Gesundheit durch Kriegs-einwirken war ja nicht wissenschaftlich bewiesen.
Ich fühle immer wieder meine große Empörung und mein Entsetzen darüber. Wie man sich fühlt, wenn man so ignoriert wird, kann ich stellvertretend für die heute Hochbetagten nachempfinden. Um ihrer Heilung willen hätte es Verständnis und Vergebung bedurft. Denn, wie man heute weiß wird Kriegstrauma auf die nachfolgenden Generationen über transgenerationale Weitergabe „vererbt“, was durch die Epigenetik-forschung auch längst nachgewiesen ist.
Durch Prof. Radebolds Forschung, wider der Bewertungen und Hindernisse und mit großer persönlicher Betroffenheit, wurde das als inexistent gehaltene krankende Deutsche Trauma aus der Sprachlosigkeit und dem grausam waltenden Unbewussten befreit und ins Öffentlichkeitsbewusstsein des neuen Jahrtausends überführt. Umso entsetzter bin ich seit Anfang 2020, wie man der kriegstraumatisierten Generation mit totalitärer Autorität Angst einflößende Isolation verordnete, sie von Soldaten auf Corona testen ließ, ihnen ein Sterben, mutterseelenallein zumutete und ihren anerzogenen Anpassungsgehorsam für eine Schutzimpfung ausnutzte, deren Nebenwir-kungen nicht bekannt waren.
Den Kriegskindern wurde ihr Leiden über mehr als ein halbes Jahrhundert aberkannt. Die Menschen, die mehrfachen und dauerhaften traumatischen Erlebnissen ohne psychologische Betreuung ausgesetzt waren, fanden fast ihr ganzes Leben lang kein Gehör. Und heute wiederholt sich alles. Dem „Alten Trauma“ wurde durch die sogenannten Maßnahmen der Pandemiebe-kämpfung „Neues Trauma“ hinzugefügt. Die Retraumatisierung der alten Traumen ist eine der schlimmsten Nebenwirkungen der Corona-Maßnahmen, nicht nur für die Kriegsgeneration.
Prof. Hartmut Radebold hat sich 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen For-schungsergebnissen für die Rehabilitation der heute noch lebenden kriegstraumatisierten Hochbetagten, den Kindern von damals, in Deutschland eingesetzt. Wer wird die neuen Traumen heilen? Mir tut es im Herzen weh, dass den Kriegskindern von damals und den Alten von heute dies alles zugemutet worden ist.
Um mein Herz zu erfreuen gehe ich wieder in den Wald zu dem Bänkchen auf der Lichtung. Heute sitzt dort ein Mann, vom Alter her könnte er der Sohn der alten Dame von gestern sein. Er telefoniert mit einem Freund, den er 20 Jahre kennt und fragt ihn, was er seiner Mutter zum Geburtstag schenken könnte. Sie hat ja alles, aber sie ist nicht zufrieden und nicht glücklich. Etwas bedrückt sie so sehr. Er lächelt mir fragend zu: „Haben Sie vielleicht eine Idee?
Was halten Sie von einem „unsichtbaren Geschenk“?
Du kannst es nicht sehen, du kannst es nicht anfassen, es ist nur einen Augenblick da und verschwindet für immer, und doch heilt es jeden Augenblick deines Lebens.
Musik ist das Geschenk.
Musiktherapie heilt.
Autorin: Dorothea Hartmann
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